Unzählige Möglichkeiten

Von Zeit zu Zeit lese ich das Buch „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Es gehört zu meinen absoluten Lieblingsbüchern und ich schätze, dass ich es bis heute mehr als zehnmal gelesen habe.

Dabei fallen mir jedes Mal neue Details und Zusammenhänge auf, die ich davor nicht wahrgenommen habe. Beim Lesen dieses Buches merke ich in gewisser Weise, in welche Richtung ich mich weiterentwickelt habe und welche Themen gerade wichtig sind in meinem Leben.

Als ich das Buch vor ein paar Monaten wieder einmal in meinen Händen hatte, kam ich beim Lesen an die Stelle, an welcher der Protagonist Bastian mit seinem Gastgeber, dem Löwen Graógramán, ein Gespräch darüber führt, ob er nicht für immer bei diesem in der Farbenwüste Goab bleiben dürfe. Aber der Löwe verneint und betont, dass Bastian aufbrechen muss, um seine eigene Geschichte zu erleben. Als Bastian sich fragt, wie er die riesige Wüste Goab alleine verlassen könne, weist in Graógramán auf die Kraft seiner Wünsche hin.

„Die Wege Phantásiens“, sagte Graógramán, „kannst du nur durch deine Wünsche finden. Und du kannst immer nur von einem Wunsch zum nächsten gehen. Was du nicht wünscht, ist für dich unerreichbar. Das bedeuten hier die Worte 'nahe' und 'fern'. Und es genügt auch nicht, nur von einem Ort fortgehen zu wollen. Du mußt zu einem anderen hinstreben. Du mußt dich von deinen Wünschen führen lassen.“ [Michael Ende: "Die unendliche Geschichte"]

Bastian hakt weiter nach, wie er - vorausgesetzt er hätte seinen nächsten Wunsch gefunden - die Farbenwüste Goab denn verlassen könne. Daraufhin erklärt Graógramán ihm das Konzept des „Tausend Türen Tempels“: Bei diesem handelt es sich um einen Ort, der, sobald man ihn betreten hat, aus einer Ansammlung von sechseckigen Räumen mit jeweils einer Eingangstür und zwei Ausgangstüren besteht.

Von außen ist der Tausend Türen Tempel nicht sichtbar, jedoch kann jede Tür in Phantásien in einem beliebigen Moment und für ganz kurze Zeit der Eingang zu diesem werden. Der Wunsch, einen Ort zu verlassen reicht aus, einen solchen Eingang zu "aktivieren" und durch diesen in den Tempel zu gelangen.
Einmal drinnen, kann der Besucher von Raum zu Raum laufen und dabei je nach Wahl der Ausgangstür verschiedene Pfade durchlaufen. Das hervorstechendste Merkmal des Tausend Türen Tempels ist, dass der Besucher ihn erst verlassen kann, sobald er sich dessen gewahr ist, "wohin" er sich wünscht. Das bedeutet im Fall von Bastian beispielsweise, dass er zwar durch den Wunsch, die Wüste Goab und den Löwen Graógramán zu verlassen in den Tempel hineingelangen kann. Er irrt dort jedoch so lange von Raum zu Raum, bis der Wunsch in ihm gereift ist, seinem Alter Ego Atréju zu begegnen. Von diesem Augenblick an, wählt er nur noch die Ausgangstüren, die er mit Atréju assoziiert (z. B. aufgrund der Farbe oder der Beschaffenheit), bis ihn der Tausend Türen Tempel schließlich hinaus lässt.

Diese kleine Skizze soll grafisch veranschaulichen, wie dieses Gebilde aussehen und welche Pfade ein Besucher darin beschreiten könnte:

Konzept
Konzept "Tausend Türen Tempel" © Erträume Deine Welt

Der Tausend Türen Tempel in unserem Alltag

Ich glaube, dass das Konzept des Tausend Türen Tempels eine interessante Metapher für unseren Alltag ist. Nehmen wir das Beispiel Arbeitsplatz: Wie viele Menschen quälen sich täglich ins Büro, nur um dort einer Tätigkeit nachzugehen, die sie weder erfüllt, motiviert oder inspiriert? Ihnen ist dabei oft gar nicht bewusst, dass sie ihren Job nicht mögen. Es ist leichter, den Frust, den sie aufgrund ihrer Arbeit verspüren, auf den Montag, die Kollegen oder auf die Familie zu projizieren.
Diese Menschen haben den Eingang zum Tausend Türen Tempel (noch) nicht gefunden. Ich vermute, dass manche von ihnen diesen sogar zeit ihres Lebens nicht finden werden. Interessant wird es für diejenigen, die ein Bewußtsein dafür entwickelt, woher der ganze Frust und der Mangel an Motivation herkommt. Aus "Ich kann Montage nicht leiden!" wird plötzlich "Ich kann meine Arbeit nicht leiden!", was dann der Schritt ist, der diese Menschen in den Tausend Türen Tempel hinein führt.

Aber, wie Graógramán zu Bastian sagte:

Und es genügt auch nicht, nur von einem Ort fortgehen zu wollen. Du mußt zu einem anderen hinstreben.
Graógramán (Die unendliche Geschichte)

Es ist damit also nicht getan. Zu wissen, dass man von einem Arbeitsplatz weg möchte, ist nur der erste Schritt. Zweifelsohne ist es ein wichtiger Schritt, aber eben nur der erste. Die nächsten Schritte bestehen darin, herauszufinden, was man stattdessen machen möchte. Das klingt zwar einfach, ist es aber für viele Menschen nicht. Denn hier ist Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber gefragt. Oft haben wir uns eine Arbeit nämlich nicht nach eigenen (intrinsischen) Kriterien ausgesucht, sondern nach Kriterien, die uns durch unser Umfeld eingeprägt worden sind (extrinsisch). Die Differenzierung zwischen intrinsischen und extrinsischen Kriterien ist oft gekoppelt an die Auflösung von Überzeugungen und Glaubenssätzen, die wir in unserer Kindheit, Jugend oder noch später erworben haben. Und das ist mitunter harte Arbeit!

Du fragst Dich vielleicht, woher ich das alles weiß? Nun, ganz einfach. Ich stecke selbst mitten im Tausend Türen Tempel fest! Mein bewusster Abschied vom Standardmodell hat mich gewissermaßen mit Lichtgeschwindigkeit hineinkatapultiert. Und ich gestehe, dass ich den Ausgang bis jetzt noch nicht gefunden habe. Ganz im Gegenteil! An manchen Tage habe ich das Gefühl, dass der Ausgang noch ganz weit von mir weg ist. Manche Menschen würden jetzt vielleicht sagen "Mach dir keine Sorgen, der Weg ist das Ziel!". Ja, das stimmt. Was aber, wenn der Weg sich scheinbar im Kreis dreht? Was, wenn ich immer wieder an die gleiche Stelle komme und das Gefühl habe, ich hätte mich nicht bewegt?

Oft träume ich sogar von diesem Motiv: Es ist Morgen, ich befinde mich in einem Hotel und ich weiß, dass ich bis 11 Uhr das Zimmer räumen muss. Ich fange also an, meine Koffer zu packen. Doch die Anzahl an Dingen, die ich noch einpacken muss, wird nicht weniger. Eher habe ich den Eindruck, dass mit jedem Koffer den ich fülle, die Anzahl der noch einzupackenden Gegenstände wächst. Aus Unruhe wird Anspannung, aus Anspannung wird eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Hilflosigkeit. Innerlich mache ich mich darauf gefasst, dass man mich nach Verstreichen der Frist entweder mit Gewalt aus dem Hotelzimmer wirf, oder ich das Hotel auch für die nächste Nacht zahlen werden muss.

In dieser oder ähnlicher Form werde ich im Traum von meinem Unterbewusstsein immer wieder an mein derzeitiges Gefühlsleben erinnert. Gleichzeitig spüre ich jedoch, dass ich kurz davor bin, den Ausgang zu entdecken. Denn lange genug befinde ich mich jetzt schon in diesem ungewissen, schwebenden Zustand. Ich weiß ganz genau, dass ich nicht mehr in das Leben zurückkann, das ich verlassen habe (und das mich auf gewisse Art und Weise auch verlassen hat). Gleichzeitig weiß ich noch nicht genau, wohin die Reise gehen wird.

Unzählige Möglichkeiten

Wenn ich im Supermarkt vor dem Kühlregal stehe, kann ich heutzutage zwischen 300 verschiedenen Milchprodukten wählen. Auch das Leben ist voller möglichen Wege und Chancen. Meine heutige Lebenssituation ist davon geprägt, dass ich Möglichkeiten in der Vergangenheit hauptsächlich mit meinem Verstand wahrgenommen und Entscheidungen diesbezüglich dann vor allem mit dem Kopf getroffen habe.

Überhaupt, mein Kopf. Er leistet mir immer gute Dienste, ist loyal und arbeitet fleißig wie ein Bienchen, manchmal sogar nachts, wenn mein restlicher Körper eigentlich schlafen will. Nein, ernsthaft: Ich schätze es sehr, dass ich in der Lage bin, meinen Verstand so effektiv einzusetzen. Ich werde nie zu den Menschen gehören, die sich primär auf ihr Bauchgefühl verlassen.

Doch eines habe ich gelernt, seit ich mich in meinem eigenen Tausend Türen Tempel befinde: Durch Benutzung meines Kopfes allein, werde ich diesen Tempel nicht verlassen können! Ganz im Gegenteil: "Vernünftige" Entscheidungen, die meine Wünsche, Träume und Gefühle außer Acht lassen, haben mich überhaupt erst in diese Situation gebracht.
Ein neuer Ansatz muss also her: Zum ersten Mal in meinem Leben versuche ich, bei Entscheidungen nicht nur auf die Stimme(n) in meinem Kopf zu hören, sondern auch auf die Stimme in meinem Herzen. Das ist unheimlich, ungewohnt und kostet mich viel Mut und Kraft.

Am Ende ist das für mich jedoch die einzige Option, von den unzähligen Möglichkeiten im Leben diejenigen zu finden und zu ergreifen, die mir und meiner Welt wirklich gut tun!

Was befindet sich hinter der Tür? [Foto: Dima Pechurin / Unsplash]
Was befindet sich hinter der Tür? [Foto: Dima Pechurin / Unsplash]

Wo befindest Du Dich? Zieht es Dich von irgendwo weg, aber noch nirgendwo anders hin? Kennst Du dieses Gefühl des Schwebezustandes? Befindest Du Dich, wie ich auch, im Tausend Türen Tempel?

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Titelbild: Victoriano Izquierdo / Unsplash



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