Wonach sehnst Du Dich?

Gedanken über Sehnsucht, Lebensträume und den Tod.

Wer sich Mexiko Stadt das erste Mal per Flugzeug nähert, wird (eine gute Sicht vorausgesetzt) Zeuge davon, was der Begriff „Mega-Metropole“ wirklich bedeutet. Gefühlte 30 Minuten vor der eigentlichen Landung überfliegt man die schier unendliche Zahl von Straßen und Häusern und Millionen von Lichtern zeugen davon, wie groß und dicht besiedelt diese Stadt ist. Selbst kurz vor der Ankunft hat der Beobachter im Passagierraum oft den Eindruck, dass das Flugzeug mitten im Gewühl der Straßen, Menschen und Autos und nicht - wie vorhergesehen - auf dem Internationalen Flughafen Benito Juárez landen wird.

Es ist für mich immer ein ganz besonderer Moment, wenn ich den Flieger verlasse und das Flughafengebäude betrete. Dann spüre ich nämlich am eigenen Leib, dass ich in Mexiko angekommen bin. Und das ist ein überwältigendes Gefühl! Denn egal, wann ich das letzte Mal dieses Land besucht habe - es erscheint mir immer so, als ob ich nach Hause kommen würde. Nein, besser noch: Es fühlt sich an, als ob ich nie weg gewesen wäre!

Wenn ich nach den Einreiseformalitäten und dem Abholen des Gepäcks im Auto sitze und mir die Stadt betrachte, weiß ich, dass ein Teil meines Herzens immer zu Mexiko gehören wird. Dabei ist es unerheblich, ob wir uns gerade durch einen der eher problematischen Stadtteile bewegen, in dem es auf den Straßen nach Abfall stinkt und einem die Armut förmlich ins Gesicht springt; oder ob wir auf den Prachtstraßen der Metropole unterwegs sind, wo ein Luxusgeschäft nach dem anderen an uns vorbei zieht. Es ist dieser ganz spezielle Geruch: eine Mischung aus Abgasen und Feinstaub, Tacoständen und Frittierfett, der mir zahlreiche Erinnerungen an meine Jahre in Mexiko beschert.

Beim Gedanken an dieses Land erlebe ich eine Vielzahl an Gefühlen. Ich denke beispielsweise an die Faszination, welche die farbenprächtigen Murales von Diego Rivera bei mir auslösen. Oder an die Märkte, in denen alles angeboten wird, was man sich nur vorstellen kann. Die Aufregung und Neugier beim Probieren unbekannter Speisen vermischt sich mit der Empfindung, viele Dinge schon zu kennen und sie nach langer Zeit einfach wiederzuentdecken. Genau so, als ob man einen guten Freund, den man ewig nicht mehr gesehen hat, wieder trifft und dabei das Gefühl hat, als hätte man sich erst gestern das letzte Mal getroffen.
Eine Emotion, sticht jedoch ganz besonders hervor, wenn ich an Mexiko denke:

Ich habe mich in letzter Zeit oft gefragt, weshalb ich solch eine immense Sehnsucht nach diesem Land habe. "Weil ich dort geboren wurde!", ist die schnelle Antwort. Aber so einfach ist es nicht (wie meistens, wenn es um Gefühle geht).
Natürlich ist Mexiko für mich Heimat, genauso wie es Österreich ist (jedoch auf andere Art und Weise - dazu vielleicht mehr in einem zukünftigen Blogartikel). Meine ganze Verwandtschaft väterlicherseits lebt schließlich dort und ich selbst bin die ersten vier Jahre meines Lebens in diesem Land aufgewachsen.

Aber es steckt noch viel mehr hinter diesem intensiven Gefühl. Ich glaube, dass Mexiko im Außen das für mich repräsentiert, wonach ich mich im Inneren sehne. Es ist also nicht nur das Land im geografischen Sinne, was mich anzieht, sondern die Eigenschaften und Gefühle, die ich damit verbinde. Ich werde anhand von drei Beispielen erklären, wie ich das meine.

1. Der etwas andere Umgang mit dem Tod

"Wow, das ist ein echt makaberes Thema!", wirst Du Dir jetzt wahrscheinlich denken. Warum über den Tod reden?
Ich weiß, dass ich noch nicht in dem Alter bin, in dem sich Menschen für gewöhnlich Gedanken über diese Thematik machen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass in Mitteleuropa viele das Thema "Tod" vor sich herschieben, wie ein lästiges Übel, mit dem am Ende des Lebens jeder konfrontiert wird. Der Tod wird durch die moderne Medizin rationalisiert und institutionalisiert, mit dem Ziel, diesen möglichst weit nach hinten zu schieben. Und wenn er denn kommt, soll er bitte schnell und schmerzlos sein. Man bekommt von dem Thema nur etwas mit (wenn überhaupt), wenn ein nahe stehender Mensch stirbt.

Es ist ohne Zweifel ein überaus schmerzvolles Ereignis, wenn ein Mensch für immer geht, zu dem man - egal, auf welche Art und Weise - eine Beziehung hatte. Die Welt bleibt scheinbar stehen und der Schmerz ist unbeschreiblich. Man fühlt sich, als ob eine Wunde da ist, die nie verheilen wird. Der Schmerz und die Trauer über den Verlust scheinen, als ob sie einen für immer in der gleichen Intensität begleiten würden. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass dem nicht so ist. Immer wenn ich der Trauer eine Chance gegeben habe, heilend einzugreifen, habe ich gespürt, wie der Schmerz mit der Zeit nachließ.

Ich habe es aber auch schon erlebt, dass Leute die ich kenne nach dem Tod eines geliebten Menschen einfach weitergemacht haben. Sich mit Arbeit zugedeckt haben bis über beide Ohren, sich mit allen möglichen Dingen abgelenkt haben, nur um nicht mit der Trauer umgehen zu müssen. Vermutlich gibt es solche Menschen in allen Ländern, auch in Mexiko. Und in den meisten Fällen finden selbst diese Menschen irgendwann meistens einen Weg, um mit ihrer Trauer umzugehen und ihre Wunden zu heilen.

Calavera - in Mexiko allgegenwärtiges Symbol des Todes
Calavera - in Mexiko allgegenwärtiges Symbol des Todes

In Mexiko wird mit dem Thema Tod anders umgegangen als bei uns. Klar, auch dort trauern die Leute beim Verlust von ihnen nahe stehenden Menschen. Der große Unterschied ist aber, dass der Tod dort als Teil des Lebens betrachtet wird.
Am sogenannten "Día de los Muertos" (Tag der Toten) kommen nach altmexikanischem Glauben die Toten einmal im Jahr zum Ende der Erntezeit zu Besuch aus dem Jenseits und feiern der Legende nach gemeinsam mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen mit Musik, Tanz und gutem Essen. Dabei ist der "Día de los Muertos" im Gegensatz zu seinem christlichen Pendant "Allerheiligen" bzw. "Allerseelen" keine Trauerveranstaltung, sondern ein farbenprächtiges Volksfest zu Ehren der Toten. Schon die Azteken sahen den Tod nicht als Ende, sondern als Anfang neuen Lebens und damit als Übergangsphase zu einer anderen Daseinsform.

Auch ich glaube wie viele Mexikaner daran, dass der Tod ein Begleiter und somit Teil des Lebens ist. Früher war ich mir beispielsweise der Tatsache nicht bewusst, dass mein eigenes Leben genauso wichtig ist wie das Leben anderer Menschen. Es ist kein Zufall, dass ich mich schon früh gefragt habe, was das Leben bedeutet und was es mit dem Tod auf sich hat. Ich glaube, dass er es war, der mich unterbewusst darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich gefälligst mein eigenes Leben leben soll! Oft subtil, manchmal direkt, aber immer unmissverständlich. Für mich ist der Tod nichts Abstraktes mehr, was am Ende meines Lebens auf mich wartet. Er ist ein treuer Begleiter, der mich hin und wieder darauf aufmerksam macht, dass das Leben ein wichtiges Gut und unsere Zeit auf dieser Welt endlich ist.
Und ich glaube, dass ich diese Botschaft verstanden habe!

2. Lebenspläne sind (oft) Makulatur

Vor nicht allzu langer Zeit hat ein Arbeitskollege in der Mittagspause von seinem Lebensplan erzählt. Leider konnte ich ein zynisches Lachen nicht unterdrücken (was bei besagtem Kollegen nicht gut ankam). Ich selbst fand das Konzept eines "Lebensplanes" immer ein wenig befremdlich. Und das, obwohl ich im Land der Lebenspläne aufgewachsen bin: in Vorarlberg. Im "Ländle" (so wird Vorarlberg liebevoll von seinen Bewohnern genannt) ist das Lebensmotto nämlich "Schaffa, Schaffa, Hüsli bouo", was übersetzt so viel bedeutet wie "Arbeiten, arbeiten, Haus bauen".

Dieses alemannische Mantra zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten und ist tief in der Vorarlberger Kultur verwurzelt. Üblicherweise wird dabei in dieser Reihenfolge vorgegangen: Ausbildung machen, Arbeitsplatz (als Arbeitnehmer) suchen, Beziehung eingehen, Verlobung, Heirat, Hausbau, Kinder bekommen. Früher wurde die Reihenfolge ziemlich strikt eingehalten, heutzutage ist man diesbezüglich schon ein wenig flexibler geworden.

Life is what happens while you are busy making other plans
Allen Saunders

Bitte versteh mich nicht falsch: Ich finde es absolut in Ordnung, wenn Menschen einen groben Lebensplan haben und in etwa wissen, wohin sie wollen und was sie erreichen möchten. Das gibt ihnen Sicherheit und Geborgenheit, fördert aber auch das Gefühl, dass sie ihr Leben vollständig im Griff haben. Und das ist vor allem eines: eine Illusion. Ein Leben kann sich in Bruchteilen einer Sekunde komplett verändern. Beziehungen können zerbrechen, Ehen scheitern (selbst schon erlebt). Auch Dein Arbeitsplatz ist nicht zu 100 Prozent sicher. Er ist vielleicht sicherer als andere Arbeitsplätze. Aber egal was Du tust, Dein Leben ist immer von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Manche davon kannst Du kontrollieren, die meisten jedoch nicht.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen in Mexiko (aber wahrscheinlich auch in vielen anderen Ländern) besser mit dieser Planungsunsicherheit umgehen können. Wenn etwas nicht so klappt wie vorgesehen, wird ein neuer Ansatz probiert. Die meisten Mexikaner halten nicht viel von einem Leben, in dem der Terminplan den Takt vorgibt, alle Abläufe auf maximale Effizienz getrimmt sind und alles zu Tode optimiert wurde. Ganz im Gegenteil: Sie gestalten ihr Leben mit dem Bewusstsein, dass es zur Entfaltung Raum, Zeit und Liebe braucht. Und sie wissen, dass Pläne manchmal scheitern. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass das nicht das Ende der Welt ist, sondern dass sie damit klarkommen werden.

Mein Vater ist in dieser Hinsicht ein großes Vorbild für mich. Er glaubt an seine Träume und lässt sich von Rückschlägen nicht einschüchtern. Im Gegenteil, er zieht seine Lehren daraus, passt seine Strategie an und kann oft aus Niederlagen noch einiges lernen und daraus einen Mehrwert für den nächsten Versuch ableiten. Hätte er sein Leben nach dem Standardlebensplan der Gesellschaft gelebt, würde er heute nicht da stehen, wo er jetzt ist.

Ich habe lange gebraucht, um mir einzugestehen, dass dieser Standardlebensplan für mich nicht funktioniert. Mein Herz sehnt sich nach so viel mehr: nach Freiheit, nach Offenheit, nach Diversität, nach Integration. Ich kann nicht länger einfach nur das Standardprogramm abspulen, denn da ist mehr.
Und nach diesem "Mehr" sehne ich mich!

3. Träume sind wichtig (und in Ordnung)

Das Verhängnisvolle bei den meisten Lebensplänen ist, dass sie nur jene Dinge berücksichtigen, die gesellschaftlich gewünscht, gewollt und gefordert sind (siehe Punkt 2). Oft opfern Menschen dafür aber ihre kleineren und größeren Träume auf dem Altar der Konformität. Mir selbst ging es genauso - ich spreche also aus Erfahrung!

Vielleicht hast du eine Leidenschaft für Café und träumst davon, Barista in deinem eigenen Kaffeehaus zu sein? Leider raten Dir Familie und Freunde jedoch davon ab, weil Du so hart studiert hast und Du Deine tolle Anstellung als Business Analyst einer großen Bank nicht so einfach sausen lassen kannst. Oder?
Jetzt mal Hand aufs Herz, Du kennst diese Situationen wahrscheinlich auch. Bei mir ist es so, dass es oft nicht einmal andere Menschen sein müssen, sondern sich diese Gespräche komplett autonom in meinem Kopf abspielen. Also ähnlich, wie ich es in meinem letzten Blogartikel beschrieben habe, bei dem es darum ging, ob ich etwas verpasst habe.

"Was hat das mit Mexiko zu tun?", fragst Du Dich vielleicht. Natürlich gibt es auch in Mexiko gesellschaftliche Zwänge und Erwartungen und die Gesellschaft ist keineswegs so offen und frei wie sie Fremden manchmal von außen erscheint. Der Unterschied ist jedoch, dass dort - meinem Gefühl nach - viel mehr Menschen ihren kleinen und großen Träumen nachgehen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass es in Mexiko für die meisten Menschen nicht so einfach ist, einen guten Arbeitsplatz (nach ökonomischen Maßstäben) zu finden. Genau das fördert aber auch die Kreativität der Menschen, sich selbst etwas aufzubauen und nicht darauf zu warten, bis ihnen ein toller Arbeitsplatz in den Schoß fällt (was im Übrigen in Europa auch nicht automatisch passiert).

Auch bei diesem Punkt muss ich wieder an meinen Vater denken, der sich praktisch im Alleingang einen großen Traum erfüllt hat. Und zwar hat er immer davon geträumt, den Absatzmarkt der Firma, bei der er in Österreich angestellt ist, nach Mexiko zu erweitern. Er hat mit wenig Unterstützung seiner Kollegen zuerst den dafür notwendigen Arbeitsplatz "erfunden" und aufgebaut. Im Anschluss daran begann er, eine Vielzahl von Unternehmen in Mexiko anzuschreiben, zu besuchen und intensives Business Development zu betreiben.
Obwohl er den einen oder anderen Rückschlag erleben musste, hat er sich nie entmutigen lassen und immer für seine Träume gekämpft. Und der Einsatz hat sich gelohnt, denn mittlerweile trägt seine Arbeit Früchte.

Ich spüre, dass auch ich die Kraft in mir habe, dem Ruf meiner Träume zu folgen.
Und ich sehne mich nach dem Mut, es auch tatsächlich zu tun!

The cave you fear to enter holds the treasure you seek
Joseph Campell

Fazit

Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema "Sehnsucht" hat mir klar gemacht, dass dieses Gefühl nicht einfach nur ein schmerzliches Verlangen nach etwas oder jemandem ist (siehe Definition). Es geht nicht um das Objekt des Verlangens alleine, sondern um die Eigenschaften, die ich damit verknüpfe. Inwieweit fehlen mir diese (idealisierten) Eigenschaften in meinem Leben? Warum fehlen sie mir?

In meinem Fall ist das Objekt des Verlangens Mexiko. Die tief verwurzelte Sehnsucht in mir nach diesem Land hat viele Gründe. Mittlerweile bin ich mir jedoch sicher: Würde ich morgen nach Mexiko ziehen, würde das die Sehnsucht nur für kurze Zeit lindern. Langfristige und wahrhaftige Heilung findet für mich nur statt, wenn ich den Blick nach innen wende und den Weg meiner Träume und Wünsche gehe.

Und noch etwas ist mir beim Nachdenken über dieses Thema ganz klar geworden. Ich liebe Europa! Es ist eine andere Liebe als die Liebe zu Mexiko. Dennoch ist sie stark. Und es sind andere Dinge, die ich an Europa schätze. Beispielsweise die hohe soziale Sicherheit. Oder das Umweltbewusstsein, was um Längen besser ist, als jenes in Mexiko. Auch beispielsweise der Umgang mit Minderheiten oder die Qualität der Infrastruktur (Leitungswasser in Mexiko Stadt zu trinken ist nicht ratsam) ist in Europa weit besser.
Ich bin ein sehr integrativer Mensch und ich wünsche mir, dass ich aus beiden Welten das Beste in mir vereinen kann. Klingt utopisch? Ist es vielleicht auch! Aber ist es nicht wert, darüber nachzudenken?

Wonach sehnst Du Dich? Was ist Dein "Mexiko"? Über einen Kommentar oder über ein Email von Dir würde ich mich freuen!



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