Habe ich etwas verpasst?

Manchmal sitze ich auf meinem Sofa und betrachte durch das Fenster die weite Welt.

An manchen Tagen ist diese grau, kalt, nass und abstoßend. Kaum ein Mensch verirrt sich bei diesem Wetter auf die Straßen, weshalb die Geräuschkulisse – abgesehen vom beständigen Trommeln der Regentropfen an meine Fensterscheiben – sehr gedämpft ist. Dann aber gibt es wieder jene Tage, an denen sich kein einziges Wölkchen am azurblauen Himmel blicken lässt. Die Sonne leuchtet intensiv und ihre wärmenden Strahlen berühren mich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Das sind die Tage, an denen sich von früh bis spät Kinder auf Spielplätzen und in den Schwimmbädern tummeln und die Menschen in Scharen die Straßen bevölkern.

Wenn das Wetter für mehrere Tage oder gar Wochen in Folge unverändert schön war und es auch nicht zu erwarten ist, dass sich daran in näherer Zukunft etwas ändert, fange ich an mir zu wünschen, es möge bald wieder regnen! Warum? Um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, wenn ich einmal zu Hause bleibe, um meinen Gedanken nachzugehen.

Ja, das schlechte Gewissen. Oder auch eine gewisse Form des „sich schuldig fühlen“. „Ich kann bei solch einem tollen Wetter doch nicht daheim bleiben, draußen gäbe es so viele schöne Dinge zu tun!“. „Was würden andere Menschen zu mir sagen, wenn sie wüssten, dass ich mir statt der Sonne den Regen wünsche?“. Das sind nur zwei Fragen von vielen, die in solchen Momenten durch meinen Kopf schießen und mich regelrecht paralysieren. Bleibe ich in Fällen von schlechtem Gewissen nämlich daheim, dann weiß ich, dass ich die Zeit nicht genießen werde. Denn ich hätte statt dessen beispielsweise eine Fahrradtour machen oder ein Eis essen gehen können. Und vermutlich hätten mir diese Tätigkeiten auch gefallen und ich wäre mit schönen Eindrücken nach Hause gekommen.

Für mich stellt sich in solchen Fällen immer wieder die Frage: Wie kann ich es mir einrichten, kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich an einem wunderschönen Sommertag spüre, dass ich in mich kehren und Zeit für mich haben möchte, ohne nach draußen zu gehen?
Denn Faktum ist: Bleibe ich zuhause, habe ich meistens ein schlechtes Gewissen und fühle mich schuldig. Schuldig, nichts „Sinnvolles“ getan zu haben. Aber was bedeutet es denn, etwas „Sinnvolles“ zu tun?
Ist es sinnvoll, sich in Ruhe einem Fluss von Gedanken hinzugeben, der – wenn es sich nicht um eine negative Gedankenspirale handelt, wie es beim Grübeln üblich ist – Erinnerungen, Ideen, Inspiration miteinander verknüpfen kann und schöpferisches Potenzial birgt? Ist es sinnvoll, sich Gedanken über sein Leben zu machen, über die Dinge, die man ändern will, die einen stören? Ist es sinnvoll, in sich zu kehren, innezuhalten und zu reflektiert? Oder ist es sinnvoll, die Gedanken einfach mal beiseitezuschieben und sich ganz dem Moment zu widmen? Der geneigte Leser wird meine Antworten auf diese Fragen vermutlich mit Leichtigkeit erraten können.

Bitte versteh mich nicht falsch – ich liebe es, an schönen Tagen in die Welt hinauszugehen und verschiedenste Dinge zu erleben! Aber ich liebe es genauso, Zeit für mich alleine zu verbringen, nachzudenken, zu lesen, zu träumen – und das am liebsten in meinen eigenen vier Wänden.

Die Thematik, die den vorherigen Fragen zugrunde liegt ist die Folgende: „Mache ich das, was ich will? Oder mache ich das, was andere Menschen gut finden (oder schlimmer: was ich denke, was andere Menschen gut finden)?“.
Es ist nicht immer ganz einfach, diese Frage zu beantworten. Jedoch fühle ich sehr genau, ob das was ich tue, sich für mich richtig anfühlt oder nicht. Und wenn ich an einem wunderschönen Sonnentag im Juli oder August nach draußen blicke und mir nur dabei denke, dass ich gerne daheim bleiben möchte, dann ist das absolut OK.
Wichtig ist für mich die Erkenntnis, dass ich – wenn ich denn will – auch beides machen kann. Am Vormittag zum Beispiel eine kleine Fahrradtour machen und am Nachmittag ein Buch auf dem Balkon lesen. Und auch hier spielt das eigene Gefühl eine wichtige Rolle. Denn wenn ich Dinge nur mache, weil ich denke, dass „es“ sich halt so gehört oder weil andere das gut finden, dann werde ich mich damit vermutlich nicht wohlfühlen. Wenn ich jedoch für mich entschieden habe, dass es das ist, was ich an dem Tag machen will – wunderbar! Und das wiederum macht den Umgang mit diesen Situationen mittlerweile sehr entspannt für mich.

Eigentlich wollte ich mich mit diesem Blogeintrag relativ kurz halten - ich habe beim Schreiben jedoch gemerkt, dass es noch einen anderen Gefühlszustand gibt, der mich viel beschäftigt und den ich thematisch in die Nähe der bereits beschriebenen Gefühlszustände einordnen würde. Die Frage, die dabei eine wichtige Rolle spielt und die namensgebend für die Überschrift dieses Blogeintrages war, ist die folgende:

Habe ich etwas verpasst?

Das Gefühl etwas verpasst zu haben und das Bedauern darüber – auch das sind Empfindungen, die mich immer wieder begleiten. Und das hat seine Gründe. Zu oft habe ich mich zurückgehalten, zu oft habe ich aus vermeintlicher Rücksicht anderen Menschen gegenüber auf Sachen verzichtet, die ich mir eigentlich gewünscht hätte.
Das beste Beispiel dafür ist mein Bedauern darüber, dass ich während meines Studiums kein Auslandssemester gemacht habe. Dabei hätte ich vielfältige Möglichkeiten gehabt. Beispielsweise hätte ich mich an der Stanford University in Kalifornien bewerben können. Diese hatte – zumindest damals - mit der TU München ein Abkommen, um den Austausch zwischen den Universitäten zu erleichtern. Der riesige Vorteil dieses Programms: Jeder Student der TU, der über dieses nach Stanford kam, konnte dort zu den finanziellen Konditionen studieren, die er an der TU München gehabt hätte. Statt den etwa 30.000 $ Studiengebühr pro Semester, wie es bei Universitäten dieser Kategorie durchaus üblich ist, wären lediglich die damals an der TU üblichen 500 € Semesterbeitrag angefallen. Kurzum: eine wunderbare Gelegenheit für jeden, mit relativ wenig finanziellen Mitteln, den Flair einer international bekannten Universität kennenzulernen.

Ich kann mich noch ganz genau an die Gedankenkette erinnern, die mir durch den Kopf gingen, als ich diese Möglichkeit in Betracht zog:

„Ich könnte mich doch in Stanford bewerben! Und zwar zu wirklich günstigen Konditionen, wenn sie mich denn aufnähmen. Doch kämen dann natürlich noch Reisekosten sowie die Kosten einer Wohnung oder eines Studentenwohnheimes dazu. Ganz zu schweigen von den Lebenserhaltungskosten. Und wer weiß, was sonst noch für Kosten anfallen würden! Ich kann meinen Eltern unmöglich zumuten, dass sie mich dabei unterstützen! Sie sind ja jetzt schon am Limit, da meine zwei Brüder auch studieren und sie dadurch Monat für Monat eine ziemlich heftige finanzielle Belastung haben.“

Nachdem ich diese Gedanken unzählige Male in meinem Kopf von allen möglichen Blickwinkeln aus betrachtet habe, kam ich irgendwann zu dem Schluss, dass ich mir ein Auslandssemester nicht erlauben kann. Ich möchte betonen, dass ich die Möglichkeit im Ausland zu studieren meinen Eltern gegenüber zwar erwähnt habe, die Gedanken die mir dazu durch den Kopf gingen jedoch leider nicht. Denn wäre das der Fall gewesen, hätte ich mit ihnen zusammen bestimmt einen Weg gefunden, um mir diesen Traum zu erfüllen.

Der Höhepunkt dieses Beispieles par excellence kommt aber erst noch: Ein oder zwei Jahre später ging mein Bruder nach Argentinien. Auslandssemester! Kurze Zeit später ging mein anderer Bruder nach Valencia. Auslandssemester!

→ Es geht also doch!

Und was habe ich gemacht? Ich bin brav in München geblieben, weil ich mit mir selbst ausgemacht hatte, dass ein Auslandssemester meinen Eltern nicht zumutbar ist.

Das wäre vermutlich die Reaktion von Captain Jean-Luc Picard auf meine Selbstsabotage [Bildquelle: © CBS Corporation]

Es gibt noch viele andere Beispiele, wie ich mich selbst sabotiert habe. Ich belasse es aber bei dem einen, da es exzellent die folgende Problematik aufzeigt: All diesen Vorfällen lag eine mir innewohnende Annahme zugrunde, dass ich mir etwas nicht erlauben darf. Oder schlimmer noch: dass ich gewisse Dinge nicht erleben darf! Und das gekoppelt mit dem Empfinden, dass ich Rücksicht auf andere Personen nehmen muss und dies – und jetzt kommt etwas sehr Wichtiges! – auf meine Kosten zu gehen hat.

Es ist also nicht verwunderlich, dass ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben und das damit verbundene Bedauern sehr gut kenne. Auch in meinen Träumen habe ich diese Emotionen immer wieder ziemlich direkt und unverschlüsselt von meinem Unterbewusstsein vorgesetzt bekommen. Folgende Träume - mit Variationen - habe ich oft geträumt (und träume ich immer noch ab und zu):

  • Ich bin bei meinen Eltern, bereite mich auf die Schule vor, schaffe es aber beim besten Willen nicht, pünktlich aus dem Haus zu kommen. Ständig denke ich daran, was für Konsequenzen es haben wird, wenn ich zu spät in die Schule komme. Immerhin habe ich in der ersten Stunde Mathe bei Professor G.! Das lähmt mich noch mehr und ich verpasse dadurch den entscheidenden Bus.

  • Ich befinde mich in einem Hotel. Überall im Zimmer, das ich gebucht habe, liegen meine Sachen verstreut, ich habe Unmengen an Gepäck dabei. Da es früh am Morgen ist, packe ich meine Koffer, da ich das Zimmer für den nächsten Gast räumen muss. Das Packen der Koffer zieht sich in die Länge, da mich immer wieder Sachen aufhalten. Menschen kommen und gehen, ich interagiere mit ihnen. Die Menge an Sachen, die ich zu packen habe, ist schier unendlich und nimmt praktisch nicht ab. Je näher ich dem Zeitpunkt komme, an dem ich das Zimmer verlassen muss, desto mehr plagt mich mein schlechtes Gewissen. Gleichzeitig fühle ich extremes Bedauern darüber, dass ich mich nicht vom Fleck rühren kann, dass ich quasi still stehe. Zugleich verspüre ich aber auch den Wunsch, endlich das Hotel verlassen zu können, um bloß nichts zu verpassen. In diesen Träumen habe ich auch immer wieder das Gefühl, ich müsse zur Rezeption gehen, um nach Verlängerung der Frist zu bitten oder um das Zimmer einen Tag länger buchen zu können. Das klappt jedoch nie, da ich auf wunderliche Art und Weise ständig davon abgelenkt werde.

  • In einer anderen Variante dieses Traumes werde ich mit einer ganz bestimmten Prüfung konfrontiert: „Höhere Mathematik III & IV“ aus dem Maschinenbau-Grundstudium der TU München. Das Interessante hierbei ist, dass ich zwar weiß, dass ich meinen Abschluss schon längst habe (auch im Traum) – gleichzeitig ist mir aber klar, dass ich diese Prüfung trotzdem schreiben muss, um mein Diplom zu bekommen. Das verursacht ein unglaublich schlechtes Gewissen, da die Prüfung immer in wenigen Tagen ansteht und ich mich im Traum nie dazu in der Lage fühle, den Stoff in so kurzer Zeit (nochmal?) zu lernen. Ich sehe hunderte Seiten Skript und Prüfungsaufgaben vor mir, Diagramme, Formeln, Ringintegrale. Und ich weiß, dass ich diese Prüfung nicht bestehen werde. Ich bedauere, dass ich nicht früher angefangen habe zu lernen. Und ich habe Angst vor den Konsequenzen, wenn ich die Prüfung nicht schaffe. Diesen Traum habe ich manchmal auch in der Variante, dass ich noch Schüler im Maturajahrgang bin und weiß, dass die große Maturaprüfung vor mir steht, obwohl mir im Traum ganz klar und bewusst ist, dass ich meine Matura schon längst abgelegt und bestanden habe.

Wie gehe ich mit diesen Gefühlen um, wirst Du Dich vielleicht fragen. Ich glaube, dass es das Wichtigste ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie existieren. Ihnen einen Raum zu geben. Ich habe angefangen mir zu erlauben, diese Gefühle zu spüren. Sie zu erfahren, sie zu erleben. Und das ist nicht leicht! Das eine ist es, mit dem Intellekt zu verstehen, wie diese Gefühle entstanden sind. Das andere ist es, diese zu spüren und ihnen einen Platz zu geben. Zu merken, dass sie existieren und ihre Daseinsberechtigung haben. Denn das tut weh.
Aber dadurch heilen diese Wunden. Auch heute denke ich noch manchmal an die verpassten Möglichkeit des Auslandssemesters und an andere verpasste Chancen und Gelegenheiten. Jedoch schwingt mittlerweile selten das große Bedauern und die Trauer mit, die ich früher oft gespürt habe. Denn ich habe andere schöne Dinge in dieser Zeit erlebt und bin dankbar dafür!

Ich habe die Möglichkeit, Chancen an mir vorbeiziehen zu lassen und mich danach zu fragen, ob ich etwas verpasst habe. Oder ich schaue mir diese Chancen an. Überprüfe, ob ich sie wahrnehmen kann. Frage andere Menschen, ob sie mich dabei unterstützen können. Tausche mich mit jenen aus, die das schon erlebt haben. Kurzum: Ich interagiere mit Menschen, um die Entscheidung nicht bloß aufgrund einer obskuren Kette von Gedanken in meinem Kopf zu treffen. Manchmal hilft mir das und bestärkt mich in meinem Entschluss, die Gelegenheit wahrzunehmen. In anderen Fällen gibt mir das aber auch die Sicherheit, die Chance ohne schlechtes Gewissen an mir vorbeiziehen zu lassen.

Hast Du manchmal das Gefühl, dass Du Dinge in Deinem Leben verpasst hast? Plagt Dich das schlechte Gewissen, wenn Du trotz Kaiserwetter daheim bleiben willst? Oder gehörst Du vielleicht zu jenen seltsamen Menschen (wie ich), die nur glücklich sind, wenn es regnet? :-)

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