Eine kleine Reise in die Vergangenheit.
Lieber Fabian!
Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich auf dem Zeitstrahl im Oktober des Jahres 2020. Ich bin 38 Jahre alt, habe einen Sohn und durfte schon einiges an Lebenserfahrung sammeln.
Mit Hilfe eines zu einer Zeitmaschine umgebauten DeLorean DMC-12 schicke ich dir einen Brief in deine Zeit als junger Erwachsener.
Wenn du diesen Text liest, müsstest du etwa 19 oder 20 Jahre alt sein. Natürlich kann und darf ich dir keine Details aus deinem zukünftigen Leben geben - als großer Fan von Star Trek weißt du ja, wie sich Veränderungen in der Zeitlinie auswirken können und was das Spiel mit der Temporalmechanik verursachen kann.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich in deinem Alter war. Ich war orientierungslos und ein Spielball meiner Gefühle sowie der Erwartungen anderer Menschen. Es war eine schwierige Zeit für mich.
Jedes Mal, wenn ich damals in den Spiegel geblickt habe, sah ich einen jungen Mann. Sein Gesicht war gekennzeichnet von einer heftigen Jugendakne, deren Narben auch im Jahr 2020 noch leicht sichtbar sind. Doch die Wunden auf der Haut waren nur der Ausdruck von viel tieferliegenden Schmerzen und Sehnsüchten.
Ich weiß, dass du keine Ahnung hast, wie du diese Wunden, diese Schmerzen und diese Sehnsucht je heilen bzw. stillen können wirst. Ich weiß auch, dass du den jungen Mann, der dich jeden Tag im Spiegel anblickt, nicht betrachten kannst. Denn du siehst ihn ihm alle Teile an dir, die dir Schmerzen bereiten, die dich verunsichern und die du verabscheust.
Ich weiß das alles, weil es lange gedauert hat, bis ich diesem Mann im Spiegel ohne Angst entgegenblicken konnte. Seinem Blick standhalten konnte. Den Schmerz und die Trauer in seinen Augen aushielt, ohne wegzublicken und ohne daran zu verzweifeln. Und auch heute, Jahre später, merke ich manchmal, dass ich mein Spiegelbild meide und dem Mann, den ich da sehe, nicht unbedingt freundlich gesonnen bin.
Doch heute weiß ich, was der Mann im Spiegel dir damals schon sagen wollte. Ich weiß, welche Schätze er dir zeigen will und welche Wahrheiten in seinem Blick ruhen. Du bist jung und verunsichert. Du sehnst dich nach Orientierung, die dir aber scheinbar niemand geben kann. Du hast Angst. Vor der Welt. Vor der Zukunft. Und vor allem vor dir selbst.
Und weißt du was? Das wird immer wieder der Fall sein! Auch ich lebe nicht in einer Traumwelt, in der alles genau so funktioniert, wie ich es mir wünsche und vorstelle. Aber ich habe gelernt, die Welt - und damit auch den Mann im Spiegel - mit anderen Augen zu betrachten.
Damit du den Mann im Spiegel besser kennenlernst, möchte ich dir 10 Dinge sagen, die er mich gelehrt hat:
1. Du trägst die Antworten schon in dir
Vielleicht kommt dir diese Aussage etwas abstrakt vor. Aber wenn du ehrlich mit dir bist, weißt du, dass du schon immer genau gespürt hast, wann etwas mit dir in Resonanz ist oder nicht. Manche Menschen würden das als Bauchgefühl bezeichnen, andere wiederum als Intuition oder als sechsten Sinn. Wie auch immer du es nennen magst, schenke diesem Gefühl mehr von deiner Aufmerksamkeit. Denn dieses kennt die Antwort auf viele deiner Fragen.
2. Gehe behutsam mit deinen Gedanken um
Eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis, die ich dir hier in einem Zitat zusammenfasse:
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
3. Vergleiche dich nicht mit anderen Menschen
Ich weiß, dass du eine Tendenz hast, dich mit anderen Menschen zu vergleichen. Du siehst, was für tolle Fähigkeiten diese haben, was sie schon alles erreicht haben und welche Erfolgen sie verbuchen können. Was du jedoch nicht siehst, sind die Selbstzweifel, die auch diese Menschen hegen. Die Unsicherheiten, die diese Menschen begleiten oder den Preis, den diese für das zahlen, was dir so begehrenswert erscheint.
Bleib bei dir, bleib bei deinen Fähigkeiten. Wenn du das Gefühl hast, dass du in etwas, was dir wichtig ist, noch nicht so gut bist, erweitere deine Fähigkeiten. Besuch Kurse, lies Bücher oder frag Menschen, die das schon können.
Vertraue darauf, dass du deine Fähigkeiten entsprechend den Bedürfnissen in deinem Leben anpassen kannst. Und vertraue darauf, dass diese dich nie im Stich lassen werden.
4. Du bist nicht alleine auf dieser Welt!
Auch wenn es dir manchmal so vorkommt: Du bist nicht alleine. Es gibt immer Menschen, die sich um dein Wohlbefinden kümmern, denen es wichtig ist zu wissen, dass es dir gut geht und die deine freundliche, offene Art schätzen. Du hast Freunde, die wissen, dass sie auf dich zählen können. Und sei dir sicher, dass du - wenn nötig - auch auf deine Freunde zählen kannst.
Niemand muss das Leben, das voller Freude ist, aber auch Kummer für uns bereithält, alleine meistern. Es gibt Menschen, die liebend gerne den Weg mit dir zusammen gehen, auch wenn es manchmal nur eine Teilstrecke ist.
5. Zeige dich der Welt: Finde deinen Ausdruck!
Dieser Punkt ist besonders schwierig für dich, ich weiß. Du fragst dich wahrscheinlich, wie du dich der Welt zeigen sollst, wenn du schon Schwierigkeiten hast, dem Mann im Spiegel entgegenzublicken. Und das ist natürlich eine berechtigte Frage.
Dazu habe ich jedoch eine Gegenfrage, die du dir auch stellen solltest: Was hast du vom Leben, wenn du dich nicht zeigst? Wenn du immer im Schatten anderer operierst? Wenn du Angst hast, deine wahres Ich zu zeigen? Wäre das nicht schade?
Ich weiß, dass du ein Mensch bist voller Ideale und Werte, angetrieben von einem starken moralischen Kompass. Die Welt braucht solche Menschen dringender denn je. Also zeige dich und finde einen Ausdruck für das, was dich bewegt. Du hältst das vielleicht derzeit nicht für möglich, aber du kannst damit Menschen inspirieren und motivieren. Und wenn es bloß ein Mensch ist, den du damit erreichst, dann hast du damit schon etwas Gutes für diese Welt getan.
6. Entwicklung ist erst sichtbar, wenn du die Vogelperspektive einnimmst
Ich gebe es zu, dass ich immer noch ein ungeduldiger Mensch bin, genauso wie du. Nichts geht mir schnell genug, ich möchte sofort Ergebnisse sehen. Aber so funktioniert das Leben nun einmal nicht. Gute Dinge brauchen bisweilen Zeit und Geduld.
Und wenn du deinen Fortschritt in Tagen oder Wochen misst, dann bist du garantiert schnell enttäuscht. Aber überlege dir einmal, wie du vor einem Jahr warst. Oder vor fünf Jahren. Überleg dir, wie sehr du dich weiterentwickelt hast, was du gelernt hast und welche Erfahrungen du in der Zwischenzeit gemacht hast. Vergleiche dich nicht mit der Person, die du gestern warst, sondern mit der Person, die du vor einem Jahr warst!
7. Perfektionismus ist Stillstand
Der perfekte Text, die perfekte Lösung für ein Problem, die perfekte Partnerin für deine Persönlichkeit. Diese Gedanken treiben dich um und lassen dich innerlich rotieren, denn du weißt ganz genau, dass du niemals Perfektion in allen Lebenslagen erreichen wirst. Und deshalb fängst du mit der Arbeit gar nicht erst an.
Somit lähmt dich dein Streben nach Perfektionismus und verhindert, dass du überhaupt anfängst, etwas zu tun. Wie oft hattest du eine Idee, hast dann angefangen und schnell festgestellt, dass du nicht die perfekten Fähigkeiten hast, um diese Idee umzusetzen. Oder es war nicht der perfekte Zeitpunkt. Oder das perfekte Wetter?
Mein lieber, gewöhn dich daran, dass du niemals die perfekten Umstände haben wirst! Du wirst immer mit Einschränkungen leben müssen. Denn das ist das Leben!
Also: Fang an, an deinen Ideen zu arbeiten, auch wenn du nicht das perfekte Skillset hast! Denn es ist besser, etwas zu schaffen, dass 80 % deinen Vorstellungen entspricht, dafür aber existiert als etwas zu erschaffen, was 100 % deinen Vorstellungen entspricht, dafür aber nie existieren wird (siehe dazu auch: Paretoprinzip).
Und ja, du wirst Fehler dabei machen! Viele Fehler sogar. Aber das macht nichts, denn jeder Fehler gibt dir die Möglichkeit, etwas zu lernen. Mitunter helfen dir Fehler sogar dabei herauszufinden, was dir überhaupt nicht liegt und wofür du wenig Talent hast. Also: quäle dich nicht damit, dass du Fehler machst, sondern gewöhne dir an, diese als Teil deines Lebens zu betrachten. Und als Möglichkeit, dich weiterzuentwickeln.
8. Erlaube dir, (groß) zu träumen
Du bist ein Träumer! Ja. Lass es die Welt wissen! Du bist ein Träumer. Und ja, auch ich bin immer noch ein Träumer, trotz so vieler Jahre Lebenserfahrung.
Lass dich nicht davon irritieren, dass viele Menschen die Träume übernehmen, die ihnen ihre Familie oder die Gesellschaft vorgibt: Auto kaufen, Familie gründen, Haus bauen. Das hat nichts Verwerfliches an sich, ganz im Gegenteil. Wenn jemand damit glücklich ist, dann ist das wunderschön.
Ich weiß jedoch, dass du dich nie auf diesem Weg gesehen hast. Du willst einen anderen, einen individuelleren Pfad gehen. Du willst wissen, wie die Welt funktioniert. Was die Menschen antreibt. Was der Grund ist, warum wir existieren.
Bleib dran! Erforsche diese Fragen. Gehe ungewöhnliche Wege. Lass dich von nichts und niemandem abbringen. Lass dir von niemandem vorschreiben, welcher Weg der Richtige für dich ist. Denn das weißt nur du ganz alleine.
Und je früher du damit beginnst, in dich hinein zu spüren und dich von deinen Träumen und von deinem Herzen leiten zu lassen, desto eher wirst du deinen Weg in dieser Welt voller Wunder und Möglichkeiten finden.
9. Umgib dich mit Menschen, die dir gut tun
Ich weiß, dass es schwierig für dich ist, deine Grenzen zu ziehen. Deshalb hast du manchmal Kontakt mit Menschen, die dir nicht guttun. Und auch wenn dein Herz dabei blutet, nimmst du all deine Kraft zusammen und verbringst Zeit mit ihnen.
Du denkst vielleicht, dass sie das von dir erwarten. Du denkst vielleicht, dass du ihnen das schuldest oder dass sie dir dankbar dafür sind. Doch wo bleibst du in dieser Gleichung? Bist du dankbar dafür, dass du mit Menschen zusammen bist, die dir deine Energie rauben?
Bist du glücklich, wenn du mit Menschen zusammen bist, die nur Teile von dir akzeptieren oder versuchen, dich nach ihren Bedürfnissen umzubiegen? Ich weiß, dass es nicht so ist.
Egal ob Freundschaften, Bekanntschaften oder Liebesbeziehungen: Wenn du spürst, dass dir eine Beziehung zu einem anderen Menschen nicht guttut, lass los und geh weiter. Du tust damit nicht nur dir einen Gefallen.
Wenn du mutig bist und dich der Welt öffnest, wenn du zeigst, wer du bist und was du kannst, dann kommen die richtigen Menschen in dein Leben. Die Menschen, die dich als Person schätzen und lieben. Diese stellen dir keine Bedingungen oder versuchen, dich nach ihren Vorstellungen zu formen. Es wird nicht wichtig sein, was du besitzt oder was du bieten kannst. Diese Menschen werden dich dafür mögen, dass du du selbst bist.
Und das reicht vollkommen!
10. Sei immer du selbst - denn Kopien gibt es schon genug
"Wie kann man denn nicht 'man selbst' sein?", fragst du dich jetzt vielleicht. Nun, in vielerlei Hinsicht. Zum einen ist es natürlich möglich, dass andere Menschen eine genau Vorstellung dessen haben, was und wie du (laut ihnen) sein solltest. Und diese versuchen dann, dir ihre Vorstellungen aufzuoktroyieren.
Dann gibt es aber noch die Möglichkeit, dass du selbst Teile von dir versteckst, weil du Angst hast, dafür verspottet oder diskriminiert zu werden, wenn du diese zeigst. Das Fatale an diesem Ansatz ist, dass alle Anteile in uns, die wir aktiv verdrängen, sich irgendwann ihren Weg nach außen bahnen. Ob du das nun willst oder nicht. Das Unterbewusstsein kennt diesbezüglich keine Gnade! Und wenn diese Anteile an die Oberfläche drängen, werden sie es mit Gewalt tun. So ähnlich wie die Pickel in deinem Gesicht sich gewaltsam durch deine Haut drücken, wenn der Druck unter der Oberfläche groß genug ist.
Und hier sind wir wieder bei der Einleitung, bei dem Mann im Spiegel.
Betrachte dieses Spiegelbild! Das bist du lieber Fabian. Das ist dein Gesicht, dein Körper, welcher das Gefäß für deine unsterbliche Seele auf dieser Welt ist.
Egal wie sehr du versuchst, dich selbst zu ignorieren, du wirst nie vor dir wegrennen können. Du wirst nie alle Anteile in dir vor der Welt verstecken können. Du wirst immer in deinem Herzen spüren, was richtig und was falsch für dich ist. Egal, wie sehr dein Kopf dir versuchen wird, das Gegenteil einzureden.
Der Mann im Spiegel ist kein Freak und er ist kein Aussätziger. Er bist du, du bist ich.
Und ich bin liebenswürdig, so wie ich bin. Mit all meinen Facetten, all meinen Narben und all meinen offenen Wunden.
Ich bin immer bei dir!
Herzliche Grüße aus der Zukunft,
Dein Fabian
Foto: Fares Hamouche / Unsplash
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